URTEIL DES GERICHTSHOFES
12. Mai 1998 (1)
„Artikel 8a, 48 und 51 EG-Vertrag Begriff des .Arbeitnehmers' Artikel 4
der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Erziehungsgeld Begriff der
.Familienleistung' Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68
Begriff der .sozialen Vergünstigung' Erfordernis des Besitzes einer
Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung“
In der Rechtssache C-85/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Bayerischen
Landessozialgericht (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
María Martínez Sala
gegen
Freistaat Bayern
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 1, 2,
3 Absatz 1 und 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des
Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr.
2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und
aktualisierten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30.
Oktober 1989 (ABl. L 331, S. 1) geänderten Fassung sowie über die Auslegung von
Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober
1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl.
L 257, S. 2)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm und M. Wathelet sowie der
Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray,
D. A. O. Edward (Berichterstatter), J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann und
L. Sevón,
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
von Frau Martínez Sala, vertreten durch Antonio Pérez Garrido, Leiter der
Rechtsstelle der spanischen Botschaft in Bonn,
der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und
Oberregierungsrat Bernd Kloke, Bundesministerium für Wirtschaft, als
Bevollmächtigte,
der spanischen Regierung, vertreten durch Abogado del Estado D. Luis
Pérez de Ayala Becerril, Juristischer Dienst des Staates, als
Bevollmächtigten,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Rechtsberater Peter Hillenkamp und Klaus-Dieter Borchardt, Juristischer
Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Martínez Sala, vertreten
durch Antonio Pérez Garrido, der deutschen Regierung, vertreten durch Ernst
Röder, der spanischen Regierung, vertreten durch D. Luis Pérez de Ayala Becerril,
der französischen Regierung, vertreten durch Claude Chavance, Sekretär für
Auswärtige Angelegenheiten in der Direktion für Rechtsfragen des
Außenministeriums, als Bevollmächtigten, der Regierung des Vereinigten
Königreichs, vertreten durch Barrister Stephen Richards, und der Kommission,
vertreten durch Klaus-Dieter Borchardt, in der Sitzung vom 15. April 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Juli
1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Das Bayerische Landessozialgericht hat mit Beschluß vom 2. Februar 1996, der am
20. März 1996 beim Gerichtshof eingegangen ist, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag
vier Fragen nach der Auslegung der Artikel 1, 2, 3 Absatz 1 und 4 Absatz 1
Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur
Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu-
und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom
2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten und durch die
Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 (ABl. L 331,
S. 1) geänderten Fassung sowie nach der Auslegung von Artikel 7 Absatz 2 der
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Martínez Sala (im
folgenden: Klägerin) und dem Freistaat Bayern über die Weigerung des Freistaats,
ihr für ihr Kind Erziehungsgeld zu gewähren.
Gemeinschaftsrecht
- 3.
- Die Verordnung Nr. 1612/68 sieht in Artikel 7 Absatz 2 vor, daß der Arbeitnehmer,
der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen
Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie
die inländischen Arbeitnehmer.
- 4.
- Gemäß Artikel 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 bezeichnet der
Ausdruck „Arbeitnehmer“ für die Anwendung dieser Verordnung jede Person, „die
gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems
der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfaßt werden,
pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist“. Artikel 2 sieht vor, daß die
Verordnung „für Arbeitnehmer und Selbständige [gilt], für welche die
Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten“.
- 5.
- Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet: „Die Personen, die im
Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die
gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats
wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser
Verordnung nichts anderes vorsehen.“
- 6.
- Nach ihrem Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h gilt die Verordnung Nr. 1408/71 „für
alle Rechtsvorschriften ... die Familienleistungen [betreffen]“. Nach Artikel 1
Buchstabe u Ziffer i sind „.Familienleistungen': alle Sach- oder Geldleistungen, die
zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe
h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in
Anhang II aufgeführten besonderen Geburtsbeihilfen“.
- 7.
- In Anhang I Teil I „Arbeitnehmer und/oder Selbständige (Artikel 1 Buchstabe a)
Ziffern ii) und iii) der Verordnung)“ Buchstabe C („Deutschland“) der Verordnung
Nr. 1408/71 heißt es:
„Ist ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der
Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung, so gilt im Sinne des
Artikels 1 Buchstabe a) Ziffer ii) der Verordnung
a) als Arbeitnehmer, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist
oder im Anschluß an diese Versicherung Krankengeld oder entsprechende
Leistungen erhält;
b) als Selbständiger, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt und
in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des
Alters versicherungs- oder beitragspflichtig ist oder
in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.“
Die deutsche Regelung und das Europäische Fürsorgeabkommen
- 8.
- Das deutsche Erziehungsgeld ist eine beitragsunabhängige Leistung, die zu einem
Bündel familienpolitischer Maßnahmen gehört und nach dem Gesetz über die
Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub vom 6. Dezember 1985
(BGBl. I S. 2154; nachstehend: BErzGG) gewährt wird.
- 9.
- Nach § 1 Absatz 1 BErzGG in der Fassung vom 25. Juli 1989 (BGBl. I S. 1550),
geändert durch Gesetz vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2823), hat Anspruch
auf Erziehungsgeld, wer 1. einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt
im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, 2. mit einem Kind, für das ihm die
Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt, 3. dieses Kind selbst betreut und
erzieht und 4. keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.
- 10.
- § 1 Absatz 1a BErzGG bestimmt: „Für den Anspruch eines Ausländers ist
Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder
Aufenthaltserlaubnis ist.“ Das vorlegende Gericht weist darauf hin, daß nach
ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts „im Besitz“ einer
Aufenthaltsberechtigung nur der sei, dem die förmliche Feststellung des
Aufenthaltsrechts durch die Ausländerbehörde bereits bei Beginn des
Leistungszeitraums vorliege; die bloße Bestätigung, daß ein Antrag auf
Aufenthaltserlaubnis gestellt worden und der Aufenthalt somit erlaubt sei, genüge
nicht für die Annahme, daß der Betreffende im Besitz einer
Aufenthaltsberechtigung im Sinne der genannten Bestimmung sei.
- 11.
- Das Europäische Fürsorgeabkommen des Europarates vom 11. Dezember 1953 ist
in Deutschland seit 1956 und in Spanien seit 1983 in Kraft; Artikel 1 dieses
Abkommens lautet: „Jeder der Vertragschließenden verpflichtet sich, den
Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil
seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten
und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen
Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen
und Gesundheitsfürsorge ... zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes
geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind.“
- 12.
- Artikel 6 Buchstabe a dieses Abkommens bestimmt: „Ein Vertragschließender darf
einen Staatsangehörigen eines anderen Vertragschließenden, der in seinem Gebiet
erlaubt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, nicht allein aus dem Grunde der
Hilfsbedürftigkeit rückschaffen.“
Der Ausgangsrechtsstreit
- 13.
- Die am 8. Februar 1956 geborene Klägerin besitzt die spanische
Staatsangehörigkeit und wohnt seit Mai 1968 in Deutschland. Dort übte sie von
1976 an mit Unterbrechungen verschiedene Tätigkeiten als Arbeitnehmerin aus,
zuletzt 1986 und danach noch einmal vom 12. September 1989 bis zum 24. Oktober
1989. Von da an erhielt sie Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz von der
Stadt Nürnberg und dem Landratsamt Nürnberger Land.
- 14.
- Die Klägerin erhielt von den zuständigen Behörden Aufenthaltserlaubnisse ohne
größere Unterbrechungen bis zum 19. Mai 1984. Im Anschluß daran erhielt sie
lediglich Bescheinigungen, wonach die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis
beantragt sei. Das Bayerische Landessozialgericht weist in seinem Vorlagebeschluß
darauf hin, daß das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 eine
Ausweisung der Betroffenen verbiete. Am 19. April 1994 wurde ihr eine
Aufenthaltserlaubnis bis zum 18. April 1995 erteilt, die am 20. April 1995 um ein
weiteres Jahr verlängert wurde.
- 15.
- Im Januar 1993, also zu der Zeit, zu der sie keine Aufenthaltserlaubnis besaß,
beantragte die Klägerin beim Freistaat Bayern Erziehungsgeld für ihr in jenem
Monat geborenes Kind.
- 16.
- Mit Bescheid vom 21. Januar 1993 lehnte der Freistaat Bayern diesen Antrag ab,
die Klägerin sei weder im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit noch einer
Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis.
- 17.
- Mit Urteil vom 21. März 1994 wies das Sozialgericht Nürnberg die am 13. Juli 1993
gegen diesen Bescheid erhobene Klage mit der Begründung ab, die Klägerin sei
nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels gewesen.
- 18.
- Am 8. Juni 1994 legte die Klägerin gegen dieses Urteil Berufung beim Bayerischen
Landessozialgericht ein.
- 19.
- Da nicht ausgeschlossen sei, daß sich die Betroffene auf die Verordnungen Nrn.
1408/71 und 1612/68 berufen könnte, um einen Anspruch auf Erziehungsgeld
herzuleiten, hat das Bayerische Landessozialgericht das Verfahren ausgesetzt und
dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. War eine in Deutschland wohnende spanische Staatsangehörige, die mit
verschiedenen Unterbrechungen bis 1986 als Arbeitnehmerin beschäftigt war
und später, abgesehen von einer kurzen Beschäftigung im Jahre 1989,
Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bezog, im Jahre 1993
noch Arbeitnehmerin im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung
(EWG) Nr. 1612/68 oder Arbeitnehmerin im Sinne des Artikels 2 in
Verbindung mit Artikel 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71?
2. Handelt es sich bei dem Erziehungsgeld nach dem Gesetz über die
Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (BErzGG) um eine
Familienleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der
Verordnung Nr. 1408/71, auf die in Deutschland wohnende spanische
Staatsangehörige nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71
Anspruch wie Inländer haben?
3. Ist das nach dem BErzGG zu gewährende Erziehungsgeld eine soziale
Vergünstigung im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung Nr.
1612/68?
4. Steht es im Einklang mit dem Recht der Europäischen Union, wenn dasBErzGG für die Gewährung von Erziehungsgeld an Staatsangehörige eines
Mitgliedstaats den Besitz einer förmlichen Aufenthaltsgenehmigung verlangt,
obwohl diese sich erlaubt in Deutschland aufhalten?
- 20.
- Zunächst sind die zweite und die dritte Frage, anschließend die erste und
schließlich die vierte Frage zu beantworten.
Zur zweiten und zur dritten Frage
- 21.
- Das vorlegende Gericht möchte mit der zweiten und der dritten Frage wissen, ob
eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem BErzGG, die bei Erfüllung
bestimmter objektiver Voraussetzungen ohne weiteres unter Ausschluß jedes
Ermessens gewährt wird, ohne daß im Einzelfall die persönliche Bedürftigkeit des
Empfängers festgestellt werden müßte, und die dem Ausgleich von Familienlasten
dient, als Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der
Verordnung Nr. 1408/71 oder als soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel 7
Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 in den Anwendungsbereich des
Gemeinschaftsrechts fällt.
- 22.
- Im Urteil vom 10. Oktober 1996 in den Rechtssachen C-245/94 und C-312/94
(Hoever und Zachow, Slg. 1996, I-4895) hat der Gerichtshof bereits entschieden,
daß eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem BErzGG, die bei Erfüllung
bestimmter objektiver Voraussetzungen ohne weiteres unter Ausschluß jedes
Ermessens gewährt wird, ohne daß im Einzelfall die persönliche Bedürftigkeit des
Empfängers festgestellt werden müßte, und die dem Ausgleich von Familienlasten
dient, einer Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der
Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen ist.
- 23.
- Die deutsche Regierung vertritt die Meinung, der Gerichtshof solle diese Auslegung
überdenken, und verweist in ihren schriftlichen Erklärungen auf ihre Erklärungen
in der vorgenannten Rechtssache; in der Sitzung hat sie zudem auf ihre
Erklärungen in der Rechtssache C-16/96 (Mille-Wilsmann) verwiesen. Diese
Rechtssache wurde mit Beschluß vom 14. April 1997 im Register gestrichen,
nachdem das Bundessozialgericht seinen Vorlagebeschluß im Anschluß an das
Urteil Hoever und Zachow aufgehoben hatte.
- 24.
- Da die deutsche Regierung nicht weiter ausgeführt hat, in welchen Punkten und
aus welchen Gründen der Gerichtshof von seinem Urteil Hoever und Zachow
abrücken soll, ist daran festzuhalten, daß eine Leistung wie das Erziehungsgeld
nach dem BErzGG, die bei Erfüllung bestimmter objektiver Voraussetzungen ohne
weiteres unter Ausschluß jedes Ermessens gewährt wird, ohne daß im Einzelfall die
persönliche Bedürftigkeit des Empfängers festgestellt werden müßte, und die dem
Ausgleich von Familienlasten dient, eine Familienleistung im Sinne von Artikel 4
Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 darstellt.
- 25.
- Der Begriff der sozialen Vergünstigung, auf den Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung
Nr. 1612/68 verweist, deckt nach ständiger Rechtsprechung alle Vergünstigungen,
die ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht den inländischen
Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder
einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung
auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind,
deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu
erleichtern (Urteil vom 27. März 1985 in der Rechtssache 249/83, Hoeckx, Slg.
1985, 973, Randnr. 20).
- 26.
- Das streitige Erziehungsgeld ist eine Vergünstigung, die unter anderem
Arbeitnehmern zuerkannt wird, die nicht voll erwerbstätig sind. Sie stellt demnach
eine soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr.
1612/68 dar.
- 27.
- Da die Verordnung Nr. 1612/68 für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer allgemeine
Bedeutung hat, kann Artikel 7 Absatz 2 dieser Verordnung zudem auf soziale
Vergünstigungen Anwendung finden, die gleichzeitig in den besonderen
Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen (Urteil vom 10. März 1993 in
der Rechtssache C-111/91, Kommission/Luxemburg, Slg. 1993, I-817, Randnr. 21).
- 28.
- Auf die zweite und die dritte Frage ist daher zu antworten, daß eine Leistung wie
das Erziehungsgeld nach dem BErzGG, die bei Erfüllung bestimmter objektiver
Voraussetzungen ohne weiteres unter Ausschluß jedes Ermessens gewährt wird,
ohne daß im Einzelfall die persönliche Bedürftigkeit des Empfängers festgestellt
werden müßte, und die dem Ausgleich von Familienlasten dient, als
Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr.
1408/71 und als soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der
Verordnung Nr. 1612/68 in den sachlichen Anwendungsbereich des
Gemeinschaftsrechts fällt.
Zur ersten Frage
- 29.
- Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob einem
Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt,
wo er als Arbeitnehmer beschäftigt war und wo er anschließend Sozialhilfe bezog,
die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68 oder der
Verordnung Nr. 1408/71 zukommt.
- 30.
- Zunächst ist daran zu erinnern, daß nach dem BErzGG die Gewährung von
Erziehungsgeld insbesondere voraussetzt, daß der Betroffene keine oder keine volle
Erwerbstätigkeit ausübt. Diese Voraussetzung schränkt den Kreis der Personen ein,
die Erziehungsgeld erhalten und gleichzeitig als Arbeitnehmer im Sinne des
Gemeinschaftsrechts qualifiziert werden können.
- 31.
- Sodann ist darauf hinzuweisen, daß es im Gemeinschaftsrecht keinen einheitlichen
Arbeitnehmerbegriff gibt, sondern daß die Bedeutung dieses Begriffes vom
jeweiligen Anwendungsbereich abhängt. So stimmt der in Artikel 48 EG-Vertrag
und in der Verordnung Nr. 1612/68 verwendete Arbeitnehmerbegriff nicht
notwendig mit dem überein, der im Bereich von Artikel 51 EG-Vertrag und der
Verordnung Nr. 1408/71 gilt.
Die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Artikels 48 des Vertrages und der
Verordnung Nr. 1612/68
- 32.
- Im Rahmen des Artikels 48 des Vertrages und der Verordnung Nr. 1612/68 ist als
Arbeitnehmer anzusehen, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen
nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine
Vergütung erhält. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses verliert der
Betroffene grundsätzlich die Arbeitnehmereigenschaft, wobei jedoch zum einen
diese Eigenschaft nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestimmte
Folgewirkungen haben kann und zum anderen derjenige, der tatsächlich eine
Arbeit sucht, ebenfalls als Arbeitnehmer zu qualifizieren ist (vgl. Urteile vom 3. Juli
1986 in der Rechtssache 66/85, Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121, Randnr. 17, vom 21.
Juni 1988 in der Rechtssache 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161, Randnrn. 31 bis 36, und
vom 26. Februar 1991 in der Rechtssache C-292/89, Antonissen, Slg. 1991, I-745,
Randnrn. 12 und 13).
- 33.
- Wenn zudem ein Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats
besitzt, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt gewesen ist und
dort verbleibt, nachdem ihm eine Altersrente bewilligt worden ist, so verlieren seine
Verwandten in absteigender Linie den sich aus Artikel 7 der Verordnung Nr.
1612/68 ergebenden Anspruch auf Gleichbehandlung im Hinblick auf eine in den
Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehene Sozialleistung, wenn
sie das 21. Lebensjahr vollendet haben, ihnen von ihm kein Unterhalt mehr
gewährt wird und sie nicht die Arbeitnehmereigenschaft haben (Urteil vom 18. Juni
1987 in der Rechtssache 316/85, Lebon, Slg. 1987, 2811).
- 34.
- Im vorliegenden Fall kann der Gerichtshof mangels ausreichender Angaben des
vorlegenden Gerichts nicht feststellen, ob nach den dargelegten Kriterien eine
Person in der Lage der Klägerin Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 48 des
Vertrages und der Verordnung Nr. 1612/68 ist, etwa weil sie auf Arbeitssuche ist.
Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.
Die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71
- 35.
- Nach ihrem Artikel 2 gilt die Verordnung Nr. 1408/71 für Arbeitnehmer und
Selbständige, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten
gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, sowie für
deren Familienangehörige.
- 36.
- Somit besitzt eine Person die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung
Nr. 1408/71, sofern sie auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Artikel
1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 genannten allgemeinen oder
besonderen Systeme der sozialen Sicherheit unabhängig vom Bestehen eines
Arbeitsverhältnisses pflichtversichert oder freiwillig versichert ist (vgl. Urteile vom
31. Mai 1979 in der Rechtssache 182/78, Pierik II, Slg. 1979, 1977, Randnrn. 4 und
7, und vom 9. Juli 1987 in den Rechtssachen 82/86 und 103/86, Laborero und
Sabato, Slg. 1987, 3401, Randnr. 17).
- 37.
- Die Kommission vertritt daher die Meinung, daß die Klägerin allein deshalb als
Arbeitnehmerin im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sei, weil sie in
Deutschland in der Rentenversicherung pflichtversichert gewesen sei oder weil die
Sozialhilfebehörde sie und ihre Kinder krankenversichert und die entsprechenden
Beiträge übernommen habe.
- 38.
- Auch die französische Regierung hat, in der Sitzung, vorgetragen, daß die Klägerin
des Ausgangsverfahrens als Arbeitnehmerin im Sinne des Gemeinschaftsrechts im
Bereich der sozialen Sicherheit angesehen werden könne, da sie auf die eine oder
andere Weise einem deutschen Rentensystem angeschlossen gewesen sei und es
vielleicht noch immer sei.
- 39.
- Die deutsche Regierung weist jedoch darauf hin, daß nach dem Wortlaut des
Anhangs I Teil I Buchstabe C („Deutschland“) der Verordnung Nr. 1408/71 im
Bereich der Familienleistungen, zu denen das in Rede stehende Erziehungsgeld
gehöre, Arbeitnehmer nur sein könne, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit
pflichtversichert sei oder im Anschluß an diese Versicherung Krankengeld oder
entsprechende Leistungen erhalte.
- 40.
- In der Sitzung hat die Kommission außerdem vorgetragen, daß die These, wonach
die Versicherung gegen ein einziges der in der Verordnung Nr. 1408/71 genannten
Risiken ausreiche, um einer Person die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne dieser
Verordnung zu verleihen, im Urteil vom 30. Januar 1997 in den Rechtssachen C-4/95 und C-5/95 (Stöber und Piosa Pereira, Slg. 1997, I-511) in Frage gestellt
worden sei.
- 41.
- In Randnummer 36 des Urteils Stöber und Piosa Pereira hat der Gerichtshof
insoweit ausgeführt, daß nichts die Mitgliedstaaten daran hindert, die Gewährung
von Familienleistungen auf Personen zu beschränken, die einer durch ein
besonderes Versicherungssystem, in jenem Fall dem Altersrentensystem für
Selbständige, gebildeten Solidargemeinschaft angehören.
- 42.
- Somit kann gemäß Anhang I Teil I Buchstabe C („Deutschland“), auf den Artikel
1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 verweist, für die Gewährung
von Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung Nr. 1408/71 als
Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a Ziffer ii dieser Verordnung nur
angesehen werden, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist oder
im Anschluß an diese Versicherung Krankengeld oder entsprechende Leistungen
erhält (Urteil vom 12. Juni 1997 in der Rechtssache C-266/95, Merino García, Slg.
1997, I-3279).
- 43.
- Wie aus dem Wortlaut dieser Bestimmung eindeutig hervorgeht, hat Anhang I Teil
I Buchstabe C den Arbeitnehmerbegriff im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a Ziffer
ii der Verordnung Nr. 1408/71 allein für die Gewährung von Familienleistungen
gemäß Titel III Kapitel 7 dieser Verordnung präzisiert oder eingeschränkt.
- 44.
- Da der Fall einer Person wie der Klägerin von keiner Bestimmung des Titels III
Kapitel 7 erfaßt wird, kann die in Anhang I Teil I Buchstabe C vorgesehene
Einschränkung auf sie nicht angewandt werden, so daß ihre
Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 allein anhand
Artikel 1 Buchstabe a Ziffer ii dieser Verordnung zu bestimmen ist. Diese Person
kann daher nur dann in den Genuß von Rechten gelangen, die an diese Eigenschaft
anknüpfen, wenn feststeht, daß sie bei einem der in Artikel 1 Buchstabe a der
Verordnung Nr. 1408/71 genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der
sozialen Sicherheit, und sei es auch nur gegen ein einziges Risiko, pflichtversichert
oder freiwillig versichert ist.
- 45.
- Da die Angaben des vorlegenden Gerichts nicht ausreichen, um dem Gerichtshof
die Berücksichtigung aller im Ausgangsverfahren eventuell maßgebender Umstände
zu ermöglichen, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob eine Person
wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens in den persönlichen Anwendungsbereich
des Artikels 48 des Vertrages und der Verordnung Nr. 1612/68 oder der
Verordnung Nr. 1408/71 fällt.
Zur vierten Frage
- 46.
- Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das
Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat verbietet, die Gewährung von
Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten von der Vorlage einer
förmlichen Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen.
- 47.
- Dieser Frage liegt die Annahme zugrunde, daß sich die Klägerin erlaubt in dem
betreffenden Mitgliedstaat aufhält.
- 48.
- Nach dem BErzGG hat Anspruch auf Erziehungsgeld, wer einen Wohnsitz oder
seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat und die übrigen materiellen
Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung erfüllt.
- 49.
- Der Angehörige eines anderen Mitgliedstaats, der sich erlaubt in Deutschland
aufhält, erfüllt die erstgenannte Voraussetzung. Er befindet sich insoweit in der
gleichen Lage wie ein Deutscher, der sich in Deutschland aufhält.
- 50.
- Nach dem BErzGG setzt jedoch anders als bei Deutschen der Anspruch „eines
Ausländers“, demnach auch eines Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, auf
die streitige Leistung voraus, daß dieser eine bestimmte Art von Aufenthaltstitel
besitzt. Unstreitig genügt die bloße Bestätigung, daß ein Antrag auf
Aufenthaltserlaubnis gestellt worden sei, nicht, auch wenn durch eine solche
Bestätigung bescheinigt wird, daß der Aufenthalt rechtmäßig ist.
- 51.
- Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, daß die „bloße
verwaltungstechnische Verzögerung [der Erteilung solcher Aufenthaltserlaubnisse]
zu materiellen Rechtseinbußen bei EU-Bürgern führen“ könne.
- 52.
- Das Gemeinschaftsrecht verbietet zwar einem Mitgliedstaat nicht, von den
Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet
aufhalten, zu verlangen, daß sie ständig ein Dokument bei sich tragen, das ihr
Aufenthaltsrecht bescheinigt, soweit die Inländer eine entsprechende Verpflichtung
hinsichtlich ihres Personalausweises trifft (vgl. Urteile vom 27. April 1989 in der
Rechtssache 321/87, Kommission/Belgien, Slg. 1989, 997, Randnr. 12, und vom 30.
April 1998 in der Rechtssache C-24/97, Kommission/Deutschland, Slg. 1998, I-0000,
Randnr. 13); dies gilt jedoch nicht notwendig auch für den Fall, daß ein
Mitgliedstaat den Anspruch der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auf
Erziehungsgeld davon abhängig macht, daß sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis
sind, die von der Verwaltung auszustellen ist.
- 53.
- Hinsichtlich der Anerkennung des Aufenthaltsrechts kann die Aufenthaltserlaubnis
nämlich nur deklaratorische Wirkung und Beweisfunktion haben (vgl. Urteil vom
8. April 1976 in der Rechtssache 48/75, Royer, Slg. 1976, 497, Randnr. 50). Aus den
Akten ergibt sich jedoch, daß der Aufenthaltserlaubnis für die Gewährung der
streitigen Leistung konstitutive Bedeutung zukommt.
- 54.
- Verlangt demnach ein Mitgliedstaat von dem Angehörigen eines anderen
Mitgliedstaats, der eine Leistung wie das streitige Erziehungsgeld erhalten möchte,
die Vorlage eines von seiner eigenen Verwaltung ausgestellten Dokuments mit
konstitutiver Wirkung, während Inländer kein derartiges Dokument benötigen, so
läuft dies auf eine Ungleichbehandlung hinaus.
- 55.
- Im Anwendungsbereich des Vertrages stellt eine solche Ungleichbehandlung, wenn
sie nicht gerechtfertigt ist, eine nach Artikel 6 EG-Vertrag verbotene
Diskriminierung dar.
- 56.
- Die deutsche Regierung hat in der Sitzung zwar eingeräumt, daß die vom BErzGG
aufgestellte Voraussetzung eine Ungleichbehandlung im Sinne von Artikel 6 des
Vertrages darstelle, sie hat jedoch geltend gemacht, der Sachverhalt des
Ausgangsverfahrens falle weder in den sachlichen noch in den persönlichen
Anwendungsbereich des Vertrages, so daß sich die Klägerin nicht auf diese
Bestimmung berufen könne.
- 57.
- Was den sachlichen Anwendungsbereich angeht, so ist auf die Antworten auf die
erste, die zweite und die dritte Frage zu verweisen, wonach das im
Ausgangsverfahren streitige Erziehungsgeld zweifelsfrei in den sachlichen
Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt.
- 58.
- Sollte in bezug auf den persönlichen Anwendungsbereich das vorlegende Gericht
anhand der in der Antwort auf die erste Vorlagefrage genannten Kriterien zu der
Auffassung gelangen, daß die Klägerin Arbeitnehmerin im Sinne des Artikels 48
des Vertrages und der Verordnung Nr. 1612/68 oder im Sinne der Verordnung Nr.
1408/71 ist, wäre die streitige Ungleichbehandlung mit den Artikeln 48 und 51 des
Vertrages unvereinbar.
- 59.
- Für den Fall, daß die Klägerin nicht als Arbeitnehmerin anzusehen ist, trägt die
Kommission vor, daß ihr jedenfalls seit dem 1. November 1993, dem Tag des
Inkrafttretens des Vertrages über die Europäische Union, ein Aufenthaltsrecht aus
Artikel 8a EG-Vertrag zustehe; dieser Artikel lautet: „Jeder Unionsbürger hat das
Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem
Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und
Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“ Nach Artikel 8 Absatz 1 EG-Vertrag ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.
- 60.
- In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens braucht jedoch nicht geprüft zu
werden, ob die Betroffene ein neues Aufenthaltsrecht im Gebiet des betreffenden
Mitgliedstaats aus Artikel 8a des Vertrages herleiten kann, da sie sich dort bereits
erlaubterweise aufhielt, obwohl sie kein Aufenthaltspapier erhalten hatte.
- 61.
- Als Angehörige eines Mitgliedstaats, die sich rechtmäßig im Gebiet eines anderen
Mitgliedstaats aufhält, fällt die Klägerin in den persönlichen Anwendungsbereich
der Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft.
- 62.
- Artikel 8 Absatz 2 des Vertrages knüpft an den Status eines Unionsbürgers die im
Vertrag vorgesehenen Pflichten und Rechte, darunter das in Artikel 6 des
Vertrages festgelegte Recht, im sachlichen Anwendungsbereich des Vertrages nicht
aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden.
- 63.
- Folglich kann sich ein Unionsbürger, der sich wie die Klägerin rechtmäßig im
Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, in allen vom sachlichen
Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts erfaßten Fällen auf Artikel 6 des
Vertrages berufen, und zwar auch in dem Fall, daß dieser Staat die Gewährung
einer Leistung, die jeder Person zusteht, die sich rechtmäßig in diesem Staat
aufhält, verzögert oder verweigert, weil diese Person nicht über ein Dokument
verfügt, das Angehörige dieses Staates nicht benötigen und dessen Ausstellung von
der Verwaltung dieses Staates verzögert oder verweigert werden kann.
- 64.
- Die fragliche Ungleichbehandlung fällt somit in den Anwendungsbereich des
Vertrages und kann nicht als gerechtfertigt angesehen werden. Es handelt sich
nämlich um eine Diskriminierung der Klägerin unmittelbar aus Gründen der
Staatsangehörigkeit. Dem Gerichtshof ist nichts vorgetragen worden, was eine
solche Ungleichbehandlung rechtfertigen würde.
- 65.
- Auf die vierte Frage ist daher zu antworten, daß das Gemeinschaftsrecht einem
Mitgliedstaat verbietet, die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer
Mitgliedstaaten, denen der Aufenthalt in seinem Gebiet erlaubt ist, von der
Vorlage einer von der inländischen Verwaltung ausgestellten förmlichen
Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen, während Inländer lediglich einen
Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben
müssen.
Kosten
- 66.
- Die Auslagen der deutschen, der spanischen und der französischen Regierung sowie
der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei
dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Bayerischen Landessozialgericht mit Beschluß vom 2. Februar
1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem
Bundeserziehungsgeldgesetz, die bei Erfüllung bestimmter objektiver
Voraussetzungen ohne weiteres unter Ausschluß jedes Ermessens gewährt
wird, ohne daß im Einzelfall die persönliche Bedürftigkeit des Empfängers
festgestellt werden müßte, und die dem Ausgleich von Familienlasten dient,
fällt als Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur
Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr.
2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten und
durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989
geänderten Fassung sowie als soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel
7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober
1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft
in den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts.
2. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob eine Person wie die
Klägerin des Ausgangsverfahrens in den persönlichen Anwendungsbereich
des Artikels 48 EG-Vertrag und der Verordnung Nr. 1612/68 oder der
Verordnung Nr. 1408/71 fällt.
3. Das Gemeinschaftsrecht verbietet einem Mitgliedstaat, die Gewährung von
Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten, denen der
Aufenthalt in seinem Gebiet erlaubt ist, von der Vorlage einer von der
inländischen Verwaltung ausgestellten förmlichen Aufenthaltserlaubnis
abhängig zu machen, während Inländer lediglich einen Wohnsitz oder ihren
gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben müssen.
Rodríguez Iglesias Gulmann Ragnemalm Wathelet
Mancini Moitinho de Almeida
Kapteyn
Murray Edward
Puissochet
Hirsch Jann
Sevón
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. Mai 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias